Am 7. Oktober startete die islamistische Hamas einen Großangriff auf Israel. An Dutzenden Stellen durchbrachen ihre Einheiten den Grenzzaun, der den Gazastreifen abriegelt. Sie griffen<span data-pill='invasion'>israelische Militärposten und Dörfer, Kibbuzim</span>, an. Zu Fuß, auf Motorrädern und auf Pick-ups stürmten sie durch die Wüste. Im Satellitenbild von diesem Tag sind Rauchschwaden über vielen Kibbuzim zu erkennen. Es war der Beginn des größten Massakers an Zivilisten in der Geschichte Israels.
Nur ungefähr fünf Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt, zwischen dem Kibbuz Be'eri und dem Kibbuz Reim, fand zur selben Zeit ein <span data-pill='highlight'>Psytrance-Musikfestival</span> statt. Schon seit Stunden tanzten dort rund 3.500 Menschen zu schnellen Beats.
Junge Menschen in ihren Zwanzigern und Dreißigern, viele von ihnen Touristen, wollten feiern: die Liebe, den Frieden, die Natur.
Eine riesige Buddhastatue war aufgebaut, eine Bar und Marktstände mit Schmuck und Kleidung. Im angrenzenden Wäldchen standen die Zelte der Feiernden. Unter kuppelartigen Dächern aus bunten Sonnensegeln tanzten sie in den Sonnenaufgang hinein, Körper an Körper, angefeuert von DJ Artifex.
5.30 Uhr
<span data-pill='maya'>Maya Izoutcheev</span>, 29, arbeitete als Türsteherin bei dem Festival, von 22 Uhr abends bis 6 Uhr morgens, acht Stunden lang. Sie trug Plateaustiefel und ein schwarzes Outfit, checkte Ausweise. Tausende schöne Menschen habe sie in dieser Nacht vorbeiziehen sehen – so erzählt esIzoutcheev Tage danach. Freunde hätten Selfies geschossen, junge Frauen mit ihr gescherzt, ihr Komplimente gemacht: Du siehst so hübsch aus! Schwester! Danke für deine Arbeit. Kommst du später mit uns tanzen? Treffen am linken oder am rechten Lautsprecher? "Niemand verdient es zu sterben", sagt Izoutcheev, "aber das waren Leute mit großen Herzen." Nach ihrer Schicht habe sie sich kurz ausruhen wollen, dann wollte sie mitfeiern. Es kam nicht dazu.
Zwischen 5.30 und 6 Uhr
<span data-pill='shani'>Shani Louk</span> ist eine deutsch-israelische Tätowiererin, 22 Jahre alt, ihr Bild geht später um die Welt. Zu der Zeit, in der sich die Schicht der Türsteherin zum Ende neigte, stand sie abseits der Tanzfläche mit ihrem Freund an der Bar – so zumindest erinnert sich der Musikmanager Raz Gaster. Der Israeli vermittelt Künstlerinnen und Künstler, auch für dieses Festival hatte er DJs aus verschiedenen Kontinenten gebucht. Auf der Setlist standen ein Japaner, ein Deutscher, ein Brasilianer. In der Psytrance-Szene, sagt Gaster am Telefon, sei er schon Jahre zuvor auch Louks Freund begegnet, einem Mexikaner. Nun, an diesem frühen Samstagmorgen, habe er das junge Paar an der Bar wiedergetroffen und mit beiden getrunken. Wunderschön sei die Stimmung gewesen. "Es war das letzte Mal, dass ich die beiden gesehen habe", sagt Gaster.
6.20 Uhr
Das Foto nahmen sie auf, kurz bevor das Grauen begann:<span data-pill='ofek'>Ofek Ravid</span> (Mitte) und ihre Freundinnen posieren darauf auf dem Zeltplatz. Ravid, eine 24-jährige Maskenbildnerin, lächelt, sie trägt Hotpants, ein bauchfreies Top und Doc-Martens-Schnürschuhe. Zwei Freundinnen flankieren sie links und rechts, alle drei tragen Sonnenbrillen, bereit für die Party am Morgen. Sie hätten am Zelt etwas Wasser getrunken, eine Zigarette geraucht, sagt Ravid. Dann gingen sie wieder tanzen.
6.30 Uhr
Während Ravid mit ihren Freundinnen tanzte, erschienen am Himmel erste Rauchwolken. Das dokumentieren Handyvideos. Es waren Spuren von Raketen aus dem nahegelegenen Gazastreifen, die Israels Luftabwehr abgefangen hatte. Die ersten Vorboten einer geplanten Vernichtung.
Der Musikmanager Raz Gaster trank zu diesem Zeitpunkt im Backstage-Zelt neben der Hauptbühne ein Bier. Er habe Explosionen gehört, es habe geknallt. Bald sei der Horizont voll mit aufsteigenden Raketen gewesen. Gaster warf sich auf den Boden, die Hände über dem Kopf.
6.31 Uhr
Plötzlich ging die Musik aus. "Ich dachte, die haben Probleme mit der Elektrik", sagt<span data-pill='ofek'>Ofek Ravid</span>. Doch als sie die Raketen sah, stieg Panik in ihr auf. Ein Sicherheitsmann habe ihnen geraten, mit dem Auto zu fliehen. Sieseien zum Parkplatz gelaufen, zusammen mit vielen anderen. Auf Videos, die Ravid ab 6.48 Uhr auf dem Parkplatz aufgenommen hat, sieht man die Raketen am Himmel, hört Explosionen. Menschen suchen ihre Autos, laden Taschen ein, einige schlendern orientierungslos herum. "Lasst mich hier nur rauskommen", hört man einen Mann aufgeregt sagen.
Etwa um diese Zeit telefonierte <span data-pill='shani'>Shani Louks</span> Mutter zum letzten Mal mit ihrer Tochter. Sie habe ängstlich geklungen. Die Mutter fragte sie: Hast du einen Bunker in der Nähe? Nein, habe Louk gesagt. Sie werde aber gleich in ihr Auto steigen und irgendwo Schutz suchen.
Überlebende erzählten der Mutter später, sie hätten gesehen, wie ihre Tochter mit Freunden zum Parkplatz gerannt sei. Dort habe Shanis grauer Kia Rio gestanden. Zu dritt sollen sie in dem Kleinwagen aufgebrochen sein, Shani Louk und zwei Freunde.
7.11 Uhr
Die Gefahr kam jedoch längst nicht mehr nur aus der Luft. Zahllose Terroristen der Hamas waren – noch im Schatten der Nacht – vom Gazastreifen aus nach Israel eingedrungen. Nur vier Kilometer nördlich des Festivalgeländes hatten sie den<span data-pill='highlight'>Kibbuz Be'eri</span> überfallen. Sie erschossen Männer, Frauen und Kinder.
Um 7.11 Uhr zogen einige aus dem Hamas-Kommando weiter, so hielt es eine Überwachungskamera fest. Junge Männer auf Motorrädern, bewaffnet mit Kalaschnikows und russischen Panzerabwehrwaffen.
Die Terroristen steuerten auf die Landstraße 232 zu. Es ist die Straße, die von Norden her zum Festivalgelände führt.
Nach 7 Uhr
Einige Sicherheitsleute des Festivals hatten die Gefahr offenbar erkannt, die sich von Norden näherte. Sie verschanzten sich<span data-pill='highlight'>hinter Autos</span>, die schon auf der Straße standen. Doch sie hatten nur einfache Pistolen, die Hamasterroristen hingegen automatische Waffen.
7.40 Uhr
Auch der<span data-pill='highlight'>Fluchtweg nach Süden</span> war längst abgeschnitten. Als ein Wagen dort um eine Kurve bog, schossen Hamasleute auf die Insassen. Kugeln durchsiebten das Auto, die Windschutzscheibe zersplitterte. Das Auto kam von der Spur ab und krachte in ein Fahrzeug, das am Straßenrand stand.
Nach 7 Uhr
Auch die Türsteherin <span data-pill='maya'>Maya Izoutcheev</span> und ihr bester Freund Sagi versuchten, mit dem Auto zu flüchten. Sie bogen nach rechts Richtung Süden auf die Straße ein und fuhren in einen Stau hinein. So erzählt sie es. "Plötzlich kamen die Terroristen von beiden Seiten der Straße, mit großen Jeeps, Motorrädern, mit Panzerabwehrwaffen und Granatwerfern." Auf der rechten Straßenseite sei eine Bushaltestelle mit einem kleinen bunkerartigen Schutzraum gewesen. "Halt das Auto an!", habe Sagi geschrien. Sie habe gebremst. In diesem Moment habe sie realisiert, dass jemand auf sie schoss.
Sie seien in den Schutzraum gestürmt. Dort seien schon etwa 40 Menschen gewesen. Eine junge Frau habe geschrien: "Bitte, bitte, ruft meine Mutter an! Ich werde das nicht überleben!" Andere hätten gelacht, vielleicht weil sie high waren, vielleicht weil sie den Ernst der Lage nicht realisierten. Nach zwei Minuten habe Sagi kurz aus dem Schutzraum herausgespäht. "Ich weiß nicht, was er in diesem Moment gesehen hat", sagt Izoutcheev. "Aber er hat mir dann das Leben gerettet." Er habe sie am Arm herausgerissen und wieder ins Auto gezogen. Ein Video einer Autokamera zeigt, wie Terroristen wenig später Granaten in den Schutzraum warfen.
Nach 7 Uhr
Wie weit die Deutsch-Israelin <span data-pill='shani'>Shani Louk</span> und ihre Begleiter genau mit dem Kia Rio kamen, ist ungeklärt. Es sei ihnen noch gelungen, drei Freunde in einem anderen Auto anzurufen und zu warnen, erzählt die Mutter der jungen Frau. Dann hätten diese Freunde durch das Telefon Schüsse und Schreie aus dem Kleinwagen ihrer Tochter gehört. Die Verbindung brach ab. War das der Moment ihrer Entführung?
Gegen 7.30 Uhr
Die Türsteherin <span data-pill='maya'>Maya Izoutcheev</span> sagt, ihr bester Freund Sagi und sie seien nach der Flucht aus dem Schutzraum noch einmal etwa 200 Meter mit dem Auto gefahren. Auf dieser kurzen Strecke hätten sie Wagen gesehen, die von Kugeln völlig durchsiebt waren. Angeschossene Menschen hätten um Hilfe geschrien. Sie habe kurz überlegt, ob sie helfen soll. Stattdessen seien sie ausgestiegen und losgerannt, über die Felder. "Sie haben auf uns geschossen wie auf Enten bei einer Jagd."
Die Leute seien in ihren bunten Festival-Klamotten gerannt, sagt Izoutcheev. "In Badeanzügen, Shorts, Tops, Westen, schönen, glitzernden Klamotten. Sie fielen hin, standen auf, rannten weiter und weiter und weiter." Sagi sei mit dem Fuß umgeknickt und wieder aufgestanden. Von hinten hätten Terroristen auf sie gefeuert, mit Gewehren und Granatwerfern. Sie hätten sich nicht umgesehen.
Izoutcheev sagt, in diesem Moment habe sie an nichts gedacht, außer dass sie am Leben bleiben wollte. Trotzdem sei sie nach 15 Minuten müde geworden vom Rennen. Sagi habe sie aufgerüttelt: "Renn, renn, renn! Los!"
Ein Mann habe beim Rennen zwei Stühle vor sich hergetragen. "Lass die Stühle stehen, du rennst um dein Leben!", habe sie ihm zugerufen. Doch der Mann habe geantwortet: "Nein, nein, das ist schon okay." Andere seien ohne Schuhe gelaufen, weil sie zuvor barfuß getanzt hatten. "In so einer Rave-Nacht beamt man sich weg, tanzt, sagt seinen Freunden, wie sehr man sie liebt", sagt Izoutcheev. Sie seien aus einer ganz anderen Welt in diesen Horror gestürzt.
Gegen 8.30 Uhr
<span data-pill='ofek'>Ofek Ravid</span>, die Maskenbildnerin, erzählt, auch sie sei mit ihren beiden Freunden vom Auto weggerannt. Sie hätten einen Abhang hinunterklettern müssen. Sie habe Angst gehabt, sich in ihren Doc-Martens-Schuhen den Fuß zu brechen. Schließlich habe sie sich mit neun weiteren Leuten in einem Gebüsch versteckt. Stundenlang hätten sie dort gekauert. Immer, wenn sie Raketen hörten, hätten sie sich flach hingeworfen. So hatten sie es in der Schule gelernt. Sie habe Todesangst gehabt, ihr Herz habe gerast, sie habe kaum atmen können. Eine junge Frau neben ihr habe sich vor Angst übergeben. Andere hätten Witze gerissen.
8.54 Uhr
Zum Glück hatte die Türsteherin <span data-pill='maya'>Maya Izoutcheev</span> eine Powerbank dabei. Trotz schlechten Empfangs erreichte sie ihre Schwester Anna per WhatsApp und schickte ihr einen Standort:
Anna (8.54): gab es dort Alarme?
Maya (8.59): Alarme???
Maya (8.59): Ich wurde beschossen
Maya (8.59): Ruf die Polizei
Maya (8.59): Schick ihnen unseren Standort
Maya (8.59): Wir werden von Terroristen umzingelt
Anna (9.00): Ich verstehe nicht
Maya (9.00): Was hast du nicht verstanden??????????
9.23 Uhr
Vielen Menschen gelang es nicht, mit dem Auto zu fliehen, sich zu verstecken oder wegzurennen. Sie waren der Brutalität der Terroristen ausgeliefert. Ein Video vom<span data-pill='highlight'>Parkplatz</span> zeigt einen Mann, der wie tot neben einem Auto liegt. Doch dann bewegt er sich kurz. Ein Terrorist sieht es und richtet ihn mit einem Schuss hin. Hinter dem Auto hat sich noch ein weiterer Mann verkrochen. Hamas-Leute finden ihn und zerren ihn weg.
Später tauchen zwei weitere Hamas-Männer an derselben Stelle auf. Sie plündern die Taschen des Getöteten.
Gegen 12 Uhr
Nach etwa drei Stunden Laufen, so erzählt es<span data-pill='maya'>Maya Izoutcheev</span>, hätten sie und Sagi einen<span data-pill='highlight'>Kibbuz</span> erreicht. Bewohnerinnen hätten ihnen Wasser gegeben. Später griffen Terroristen auch diesen Kibbuz an. Doch Izoutcheev und ihr bester Freund schlugen sich zuvor von dort aus mit einem Bus und einer Mitfahrgelegenheit nach Tel Aviv durch. Im Haus von Izoutcheevs Eltern seien sie sich alle in den Arm gefallen und hätten geweint. "Ich konnte kaum glauben, dass wir noch am Leben sind", sagt Izoutcheev.
Gegen 13 Uhr
Vier Stunden lang harrte<span data-pill='ofek'>Ofek Ravid</span> schon in ihrem Versteck im Gebüsch aus. Dann sei der Vater eines Freundes mit seinem Pick-up gekommen. Zu zehnt seien sie hineingeklettert. Auch ein Polizist sei aufgetaucht. Er habe gesagt: "Fahrt so schnell ihr könnt, aber nicht nach rechts." Die ersten Momente nach der Rettung hat Ravid auf Video festgehalten. Sie filmte sich, wie sie in dem Pick-up auf dem Schoß eines Freundes sitzt. "Entschuldigung, dass ich euch zerquetsche", scherzt sie. Sie sieht erschöpft aus.
Um die Mittagszeit
Was aber wurde aus <span data-pill='shani'>Shani Louk</span>?
Weit weg vom Festivalgelände fotografierte ein Reporter der Nachrichtenagentur AP im Gazastreifen einen vorbeifahrenden Pick-up. Auf dem Wagen saßen jubelnde Hamasterroristen. Zu ihren Füßen, auf der Ladefläche, lag eine junge Frau, bewusstlos und halb nackt.
Auch Shani Louks Mutter bekam Bilder des Pick-ups zu sehen. Sofort war sie sich sicher: Das war ihr Kind, von der Hamas gekidnappt und verschleppt. Sie erkannte Shani an ihren Tattoos.
Ein später aufgenommenes Video zeigt Hamasterroristen, die Shani Louk auf demselben Pick-up wie eine Trophäe durch Gaza-Stadt fahren. Eine Menschenmenge jubelt dem Wagen zu, ein Jugendlicher bespuckt ihren geschundenen Körper. Die Aufnahmen lassen nicht erkennen, ob sie in diesem Augenblick noch lebte.
Danach
Noch aus ihrem Versteck im Gebüsch heraus hatte jemand, der sich dort mit Ofek Ravid verbarg, die Polizei angerufen. Niemand sei drangegangen. Unzählige ähnliche Nachrichten müssen Polizei und Rettungsdienste erreicht haben. Israelische Soldaten kamen erst spät am Festivalgelände an. Rettungskräfte bargen 260 Leichen. Niemand weiß bisher, wie viele Menschen insgesamt wirklich getötet und verletzt wurden. Und noch immer ist nicht klar, wie viele Personen die Terroristen genau in den Gazastreifen entführten.
Ofek Ravid und Maya Izoutcheev verbringen ihre Tage nun in ihren Elternhäusern. Sie chatten mit anderen Überlebenden, scrollen durch schreckliche Videos, ständig in Angst, das Gesicht einer Freundin zu erkennen.
Auf einem Video, das im Netz kursiert, entdeckte Maya Izoutcheev kürzlich eine ihrer Kolleginnen vom Einlass. Helfer binden ihr darauf ein Bein ab, sie blutet.Izoutcheev weiß nicht, ob sie noch lebt.
Auch drei von Ofek Ravids Freundinnen werden vermisst. Zwei sind tot. Sie könne an nichts anderes mehr denken, sagt Ravid.
Raz Gaster, der Musikmanager, hat überlebt. Er floh mit dem Auto, noch bevor die Terroristen das Festivalgelände erreichten. "Die Psytrance-Community trauert", sagt er. "Jeden Tag kommen neue Namen unserer Freunde, unserer Familien hinzu, die für tot erklärt oder entführt wurden."
Die Eltern von Shani Louk klammern sich an jedes mögliche Lebenszeichen. Am Dienstag verbreitete ihre Mutter ein Video. Sie habe erfahren, dass ihre Tochter mit schweren Kopfverletzungen in einem Krankenhaus im Gazastreifen liege.
"Jeder, der das überlebt hat", sagt Maya Izoutcheev, "hat durch ein Wunder überlebt."